Aufnahme von Geflüchteten
Ein Zeltdach über dem Kopf
In Festzelten, einem alten Kloster oder auf einem Schiff: Städte und Gemeinden müssen improvisieren, um die vielen Geflüchteten unterzubringen. Kommunalpolitiker warnen vor einem "Kipppunkt" - doch es gibt auch zuversichtliche Stimmen.

Von

Jan Friedmann,

Matthias Bartsch,

Tobias Großekemper,

Christine Keck,

Peter Maxwill,

Steffen Winter

09.03.2023, 19.45 Uhr o aus DER SPIEGEL 10/2023

Matthias Schimpf steht im Mittelgang eines Festzelts, 65 Meter lang, er gestikuliert nach rechts und nach links. Der Mann hat nichts zu feiern, er ist bedrückt: "Ich bin seit 1989 in der Kommunalpolitik und zum ersten Mal fast ratlos", sagt er. Schimpf ist Beigeordneter des Landkreises Bergstraße in Hessen, zuständig für Soziales und Migration.

Foto: Peter Jülich / DER SPIEGEL

In dem Zelt, in dem vermutlich schon viel Bier getrunken wurde, wohnen nun 250 Menschen. Ventilatoren unter dem Dach und eine mobile Warmluftheizung sollen die Winterkälte vertreiben. Bauzäune wurden mit Planen bespannt, sie schaffen ein bisschen Privatsphäre zwischen den Stockbetten. Drei Zelte hat der Landkreis angemietet und auf einem Festplatz am Rande der Stadt Bensheim aufstellen lassen, in einem vierten wird Essen ausgegeben und spielen Kinder.

Gedacht war all das als Kurzzeitlösung für Geflüchtete aus der Ukraine. Die leben inzwischen zumeist in privaten Wohnungen, in einem ehemaligen Krankenhaus und neuerdings in einem früheren Indoor-Spielpark, die der Kreis ebenfalls gemietet hat. Dafür sind Menschen aus anderen Ländern nachgerückt, vor allem junge Männer aus der Türkei, Afghanistan und Syrien. Diese Asylbewerber haben im Unterschied zu den Ukrainern kaum Aussicht, schnell wieder auszuziehen. Die rund 1000 Plätze sind bald voll. "In fünf Wochen ist alles dicht", sagt Schimpf. Und dann? Er zuckt mit den Schultern. Man müsse dann die Neuankömmlinge wohl direkt in die Städte und Dörfer weiterleiten.

Das Bensheimer Dauerprovisorium ist keine Ausnahme. An vielen Orten in Deutschland ächzen die Kommunalverantwortlichen unter der hohen Zahl von Geflüchteten. Schon jetzt haben sie Probleme, die Schutzsuchenden unterzubringen. Sie improvisieren, mieten Container an, Saisonarbeiter-Unterkünfte, ehemalige Supermärkte oder Hotels, in Bach an der Donau bei Regensburg sogar ein festgezurrtes Ausflugsschiff.

Opfer mehrerer Großkrisen

In den Unterkünften sammeln sich Opfer mehrerer Großkrisen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine, die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, das autoritäre Regime Erdo?ans in der Türkei, der zermürbende Bürgerkrieg in Syrien - sie alle treiben Menschen millionenfach in die Flucht. Und die Folgen der Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion sind noch gar nicht absehbar.

218.000 Menschen beantragten im vergangenen Jahr erstmals Asyl in Deutschland, eine Zahl, die über der Obergrenze von 200.000 liegt, die der damalige CSU-Vorsitzende Horst Seehofer 2017 festschreiben wollte. Jetzt im Januar waren es 29.000, doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. Sie addieren sich zu der einen Million ukrainischer Flüchtlinge, die seit Kriegsbeginn gekommen sind. Egal, vor welcher Katastrophe oder welchem Kriegsherrn die Menschen Schutz suchen, egal, welchem Rechtsstatus sie unterliegen: Ein Dach über dem Kopf brauchen sie alle.

Kommunalpolitiker fühlen sich im Stich gelassen

Bürgermeister oder Landrätinnen stecken in einem Dilemma. An den Fluchtursachen können sie nichts ändern, sie können auch nicht die EU-Außengrenzen kontrollieren, aber ihre Gemeinden müssen die Folgen tragen. Von der Berliner Politik fühlen sich viele im Stich gelassen.

Matthias Schimpf, 54, Dreitagebart, kleines Piercing im linken Nasenflügel, ist seit Jugendtagen Mitglied bei den Grünen. Jetzt gehört er zu denen, die mit der Flüchtlingspolitik der eigenen Partei hadern. "Das ist eine ganz bittere Erfahrung", sagt er, "aber so wie bisher kann es nicht weitergehen."

Im Februar unterzeichnete er ein Positionspapier mit einem Plädoyer für eine stärke Steuerung der Einwanderung und konsequente Abschiebungen. Es wurde von einer Gruppe grüner Realos in Umlauf gebracht, auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ist dabei.

Dezernent Schimpf vor den Zelten in Bensheim: "Wir müssen zur Ehrlichkeit finden"
Foto: Peter Jülich / DER SPIEGEL

Etwa die Hälfte der Menschen, die dem Landkreis Bergstraße aus Drittstaaten zugewiesen werden, hätten kaum Aussicht auf ein Bleiberecht, so der Dezernent. Viele Asylbewerber, etwa aus der Türkei oder dem Irak, würden nicht anerkannt. Um die müsse man sich trotzdem kümmern. "Dadurch fehlen uns die Ressourcen für die Integration all jener, die eine Perspektive haben", sagt Schimpf. "Wir müssen zur Ehrlichkeit finden und uns eingestehen, dass unsere bisherigen Ansätze ein Stück weit gescheitert sind."

Solche Aussagen häufen sich, es werden derzeit viele offene Briefe nach Berlin oder in die Landeshauptstädte geschickt. Die beiden Thüringer Landrätinnen Martina Schweinsburg (CDU) und Peggy Greiser (parteilos) starteten eine Onlinepetition mit dem Titel "Verhandlungen statt nur Waffen! Aufruf der Thüringer Kommunalpolitik". Sie fordern "eine diplomatische Offensive" im Ukrainekonflikt, auch wegen der "Herausforderungen, die wir in unseren Städten und Gemeinden zu bewältigen haben".

"Überforderung des Systems"

Die beiden Flüchtlingsgipfel von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) scheinen den Unmut mancherorts noch vergrößert zu haben. Viele Kommunalpolitiker wünschen sich Gespräche mit dem Kanzler persönlich. Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, hält die Lage im Vergleich zu 2015 für dramatischer und warnt vor einer "Überforderung des Systems". Dabei gibt es bislang keine Verzweifelten, die wie 2015 vor dem Berliner Flüchtlingsamt kampieren, und ebenso wenig Kolonnen, die zu Fuß die letzte Station der Balkanroute nach Bayern bewältigen.

Die Planer rechnen eher mit Dauerzulauf auf hohem Niveau. So hat die Stadt München gerade acht neue Standorte für Flüchtlingsunterkünfte ausgewiesen, zunächst für fünf Jahre. Denn viele Sammelunterkünfte sind noch mit anerkannten Flüchtlingen belegt, die längst einen Aufenthaltstitel haben, aber keine Wohnung auf dem freien Markt finden. Im Behördenjargon heißen sie "Fehlbeleger".

Ebenfalls auf der Suche sind Menschen aus der Ukraine, die zunächst bei privaten Helfern und Helferinnen auf dem Sofa oder im Gästezimmer unterkamen. Wenn sie dort nicht bleiben können, landen sie ebenfalls bei den Kommunen. Und der öffentlichen Hand fehlen schnell nutzbare Immobilien wie ehemalige Kasernen: Die wurden im Zuge des Baubooms vielfach schon umgewidmet.

Knapper und teurer Wohnraum

Wenn es um die Unterbringung geht, wirkt sich der sogenannte Königsteiner Schlüssel eher nachteilig aus. Nach ihm werden Gelder und Menschen auf die Bundesländer verteilt; er gewichtet Bevölkerungszahl und Steueraufkommen, im Verhältnis ein Drittel zu zwei Drittel.

So gelangen Asylbewerber eher in wirtschaftsstarke Bundesländer, wo der Wohnraum tendenziell knapper und teurer ist - und genau dorthin zog es auch die ukrainischen Geflüchteten, die ihren Wohnsitz weitgehend frei wählen durften. So leben in Oberbayern laut Regierung zurzeit dreimal so viele Geflüchtete wie Ende 2015.

Die Länder verteilen die Schutzbedürftigen weiter. In Stemwede im Norden von Nordrhein-Westfalen kommen auf rund 13.000 Einwohner derzeit 534 Geflüchtete. Für die nächsten Tage sind 15 weitere angekündigt, wahrscheinlich ehemalige Ortskräfte etwa der Bundeswehr aus Afghanistan. Noch weiß Bürgermeister Kai Abruszat nicht, wo er sie unterbringen soll. Eine ehemalige Grundschule ist schon voll belegt. Im Notfall könnte er noch eine Sporthalle umfunktionieren. Der Bürgermeister sagt: "Das Ende der Möglichkeiten ist absehbar".

Es geht nicht nur um zusätzliche Mittel

Der FDP-Mann war schon 2015 im Amt. Damals habe Stemwede nicht so viele Geflüchtete zugewiesen bekommen wie jetzt. Noch sei die Akzeptanz im Ort nicht geschwunden, und seine Ostwestfalen seien grundsätzlich ein gelassener Menschenschlag, sagt der Kommunalpolitiker. Jedoch: "In den Berliner und Düsseldorfer Politblasen muss endlich verstanden werden, dass jede Gesellschaft nur eine begrenzte Tragkraft hat." Es gehe dabei nicht nur um zusätzliche Mittel. "Geld bringt uns keinen Wohnraum, keine Kitaplätze, keine Pädagogen oder ärztliches Personal."

"Unkontrollierter Zuzug führt in ein Chaos und zu großem sozialem Unfrieden."
Kai Abruszat, Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen

Was hilft dann? "Die Begrenzung der Zuwanderung. Und die Kontrolle darüber. Unkontrollierter Zuzug führt in ein Chaos und zu großem sozialem Unfrieden."

Es sind Befürchtungen, die vor Ort häufig zu hören sind: dass bald andere staatliche Angebote leiden könnten, manche Aufgaben nicht mehr zu erfüllen sind. Damit Integration gelingt, braucht es auch Sprachkurse oder Schulunterricht, Hilfe bei der Arbeitssuche oder Asylsozialarbeit. Dazu sind Unterstützer und Unterstützerinnen vor Ort nötig, und die ziehen sich teilweise zurück.

Aber ist man tatsächlich schon "an einem Punkt angekommen, an dem es kippen kann", wie Landrätin Schweinsburg an Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) schrieb? Jedenfalls häufen sich Proteste und Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte. In Marklkofen in Niederbayern legte ein Tatverdächtiger wohl zweimal an einem Zelt Feuer, das als Unterkunft dienen soll. Im Kreis Bamberg musste die Polizei Protestierende aus einem Gemeinderatssaal schaffen. Im oberbayerischen Peutenhausen wurden bei einer mutmaßlich rechtsradikalen Aktion Feuerwerkskörper vor einer Gemeinschaftsunterkunft gezündet.

In sächsischen Orten wie Strelln, Eilenburg oder Laußig demonstrierten in den vergangenen Wochen mitunter Hunderte Menschen gegen die Unterbringung von Schutzsuchenden. Im mecklenburgischen Grevesmühlen kam es Ende Januar zu Tumulten vor dem Kreistag, in Greifswald musste die Polizei am Dienstag den Oberbürgermeister mit Schlagstöcken vor aufgebrachten Demonstranten schützen.

"Kein Kipppunkt in Sicht"

Demgegenüber sind Stimmen der Zuversicht zu hören. So ist nach einer aktuellen Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung die Solidarität der Deutschen mit Geflüchteten aus der Ukraine hoch. Jeder Zweite sei bereit zu spenden oder sich ehrenamtlich zu engagieren, es sei "kein Kipppunkt in Sicht". Eine andere Umfrage ergab: Eine Mehrheit der Deutschen glaubt, das Land könne die hohen Flüchtlingszahlen verkraften. Forscher verweisen darauf, dass einige Kommunen noch Kapazitäten hätten.

Und wo keine mehr zu sein scheinen, lassen sich vielleicht doch noch welche schaffen. In Tübingen kennt Daria Sova jeden Winkel ihres Zimmers, sie hat den Dreck von den Holzdielen geschrubbt, die rostigen Heizkörper gestrichen, die Wände geweißelt. "Nichts zu tun fällt mir am schwersten", sagt die 31-jährige Ukrainerin, die vor dem Krieg in Cherson die Finanzen einer Klinik gemanagt hat. Keine Sekunde habe sie überlegen müssen, ob sie mitmacht bei dem außergewöhnlichen Projekt, in dem Geflüchtete selbst ihre Unterkunft renovieren.

Ukrainerin Sova im ehemaligen Kloster in Tübingen: Sie fühlt sich hier inzwischen zu Hause
Foto: Verena Müller / DER SPIEGEL

Die katholische Kirche überließ das ausgediente Kloster oberhalb des Neckars kostenfrei erst dem Landkreis, dann der Stadt, es hatte zuvor jahrelang leer gestanden. 30 Personen sollen dort nun wohnen, die veranschlagten Umbaukosten konnten auf 90.000 Euro halbiert werden, ein Architektenpaar kümmert sich um die Baustelle. Und ein gutes Dutzend Ukrainerinnen und Ukrainer packte zwei Monate lang mit an, sie legten Fliesen, beseitigten Wasserschäden, im Frühjahr soll der zugewucherte Garten gelichtet werden.

Noch stehen Kabeltrommeln und Farbeimer im Flur, aber Sova und ihre achtjährige Tochter Lisa sind schon vor Monaten aus der Notunterkunft in der Kreissporthalle hier eingezogen. Sie fühle sich dort inzwischen zu Hause, erzählt die Ukrainerin. "Uns als Gruppe hat das gutgetan", sagt Sova. "Wir kannten uns nicht und leben inzwischen fast wie eine Familie".


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